„Die Fähigkeit, schneller zu lernen als die Mitbewerber, ist vielleicht der einzige nachhaltige Wettbewerbsvorteil“. Der niederländische Wirtschaftstheoretiker Arie de Geus (*1930) kann als einer der Vordenker der Lernenden Organisation gelten. Die lernende Organisation (LO) ist die Antwort auf die Herausforderungen unserer digitalisierten Epoche: Menschliche Flexibilität, Entscheidungsfreude, Dynamik im Handeln und eine chancenorientierte Fehlerkultur.
Warum der Dinosaurier nicht überlebt hat
De Geus fokussierte auf die Flexibilität einer Organisation: Wie rasch reagiert sie auf innere und äußere Reize und passt ihr Verhalten an? Flora und Fauna unseres Planeten machen es vor: Die Anpassungsfähigsten überleben am längsten. Sonst wäre der Dinosaurier nicht zur Animationsfigur geschrumpft. In einer vernetzten und globalisierten Welt sich rasch verändernder Märkte sind Flexibilität im Denken und Dynamik im Handeln unerlässlich. Das gilt für jeden einzelnen Mitarbeiter! Ungeachtet von Hierarchieebenen und Sachbereichen. Starre Hierarchien mit den ihnen innewohnenden Befehlsketten werden diesen Anforderungen nicht mehr gerecht.
Kreativität gedeiht nur auf fruchtbarem Boden
Die Begrifflichkeit der Lernenden Organisation hat der Politikwissenschaftler Peter Senge (*1947) etabliert. Fortgeführt und verdichtet vom belgischen Unternehmer Frederic Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations: Formen sinnstiftender Zusammenarbeit“. Drei Denk- und Handlungsfelder prägen die LO:
- Mitarbeiterautonomie: Jeder Mitarbeiter, ungeachtet hierarchischer Zuordnungen, definiert seinen genuinen Verantwortungsbereich – und steht dann auch für alle Entwicklungen gerade. Zudem spricht er sich kontinuierlich mit Kollegen ab, wenn wichtige Entscheidungen mehrere Sachbereiche berühren.
- Gesamtpersönlichkeit: Kreativität gedeiht auf fruchtbarem Boden. Geben Mitarbeiter einen Großteil ihrer Persönlichkeit am Pförtnerhäuschen ab – dann kann von einem derart geschrumpften Menschen auch kein Höchstmaß an kreativen Ideen erwartet werden. Erst wenn der Mitarbeiter mit seiner Gesamtpersönlichkeit wirken kann, schöpft er in Sachen Ideenreichtum aus dem Vollen.
- Sinnhaftigkeit: Organisationale Sinnhaftigkeit ist eine komplexe Gemengelage aus Engagement, Struktur und informellen Abläufen im Unternehmen. Immer noch zieht das Gros der Unternehmen seinen Sinn rein aus sozialem oder ökologischem Engagement, wie bspw. Bildungsförderung oder Drittwelt-Projekte. Das Handeln an sich ist gut. Aber organisationaler Sinn ist umfassender: Warum gestalten wir unsere Aufbau- und Ablauforganisation, unsere Positionen und Funktionen so und nicht anders? In der Antwort liegen die Prämissen, welche Ordnung in diesem Unternehmen gewünscht ist. Schwerer zu beantworten ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit im ungeregelten Miteinander, den sog. weißen Flächen im Organigramm: Warum sind bestimmte Akteure im Unternehmen die heimlichen Wortführer, warum sitzt abteilungsübergreifend immer diese Gruppe jeden Mittag gemeinsam in der Kantine? Es sind diese „heimlichen Wortführer“, die dem Unternehmen sein wahres Gepräge verleihen. Prämissen lassen sich hier nicht aufstellen.
Das Unternehmen als Spiegel des organischen Körpers
Der Kerngedanke eigenständiger Verantwortungseinheiten in der LO ist der Holon-Theorie des Philosophen und Schriftstellers Arthur Koestler (1905-1983) entlehnt. So wie eine Zelle für sich ein Ganzes (Holon), zugleich aber Teil eines Organs ist, welches wiederum Element des Körpers ist, so sind auch soziale Einheiten aufgebaut. Jedes Ganze operiert in dem ihm möglichen Radius eigenständig, und ist zugleich in stetiger Interaktion, Vernetzung mit anderen Einheiten.
Soziales Betriebssystem fürs Unternehmen
Der US-Amerikaner Brian Robertson hat daraus Holacracy (Holakratie) entwickelt, als „soziales Betriebssystem für Unternehmen“. In ihren jeweiligen Kompetenzgebieten arbeiten die Menschen autonom, in ihren Verantwortungsbereich redet ihnen kein Vorgesetzter hinein. Ohne, rein hierarchisch-funktional begründete, Disziplinarbefugnis laufen Arbeitsprozesse schneller, konzentrierter und damit auch effizienter.
Autokratie und Demokratie hinter sich lassen
Sobald andere Arbeitsbereiche von einer anstehenden Entscheidung betroffen sind, wird ein Kreis einberufen, in dem die Repräsentanten der betroffenen Bereiche gemeinsam an Lösungsfindungen arbeiten. Hier kommt das sog. „Konsent“-Prinzip zum Tragen. Das Kunstwort „Konsent“ wurzelt im Verständnis einer gemeinsam getroffenen Entscheidung, die nicht autokratisch (herkömmliches Chef-Prinzip) ist, aber auch nicht demokratisch im Sinne eines Konsenses. Der demokratische Konsens bezieht sich immer auf eine mehrheitliche Entscheidungsfindung, ob sich in der Zukunft etwas bewähren wird: Wird uns das in fünf Jahren den Durchbruch bescheren? Hier wird oft solange diskutiert, bis externe Entwicklungen die Entscheidungsfindung überholt haben. Der „Konsent“ fußt auf der Gegenwart; das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zum Konsens: Er rekurriert nicht auf mögliche Vorteile, sondern auf den möglichen Nachteil.
Der „Konsent“: Noch irgendwelche Einwände?
Der Grundgedanke: Für die Erhaltung einer sozialen Gemeinschaft (und nichts anderes ist ein Unternehmen) ist entscheidend, ob eine bestimmte Entscheidung jetzt, in diesem Zeitraum, eine konkrete Schädigung eines anderen Interessenbereichs bedeutet. Diese „Wunde“ würde das gesamte soziale System in Mitleidenschaft ziehen. Im „Konsent“-Verfahren ist darum immer der Einwand eines anderen Verantwortungsträgers entscheidend: das schadet meinem Bereich. Kann dieser Einwand nicht hinreichend (sachlich!) begründet werden, nehmen die Beteiligten das neue Vorhaben in Angriff. Hier wird ein weiteres grundlegendes Prinzip deutlich: Es geht ums Tätigwerden, ums rasche Handeln. Auch dies ein Moment der gern beschworenen Effizienz, der Relation von Erfordernis und damit verbundenem Aufwand. Erweist sich der eingeschlagene Weg als falsch (wurde also ein Einwand übersehen), wird die nächste „Konsent“-Runde einberufen.
Fehlerkultur: Weg von der Sanktion, hin zur Chance
Hier zeigt sich ein neues Verständnis von Fehlerkultur. In diesem Fall ergeht kein Vorwurf an denjenigen, der etwas übersehen oder vergessen hat. Die in klassisch funktional-hierarchieorientierten Unternehmen vorherrschende, sanktionierende Fehlerkultur („Du warst nicht perfekt, das muss bestraft werden“) erfährt eine Transformation zu einer chancenbetonten Kultur: Der Fehler wird entpersonalisiert und als Hinweis interpretiert, dass Strukturen und Prozesse einer weiteren Überarbeitung bedürfen, dass hier etwas intransparent oder inkonsistent ist, und darum ein Einwand übersehen wurde. Auf Basis dieser Einsicht ergibt sich für das Team die Chance einer neuerlichen Überprüfung und Optimierung.
Teil 3 der Reihe: In einer VUCA-Welt
Teil 2 der Reihe: Alles fließet
Teil 1 der Reihe: Rugby im Büro
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Aktuelle Publikation der Autorin: „Elektromobile Arbeitswelt: Agilität in Methoden und innerer Haltung“ im Kompendium „Systemwissen zur E-Mobilität“
Die Autorin ist Gründerin der Verbundinitiative authentisch anders, die sich der grundlegenden Frage stellt: Wie kann eine menschenwürdige Gesellschaft gelingen und welche Impulsfunktion kommt dabei Unternehmen und Organisationen zu?