Die Zahl derer, die bereits mit 63 Lebensjahren in Rente geht, ist ungebrochen hoch. Die Freude, den Bürostuhl mit dem Schaukelstuhl zu Hause zu tauschen, ist groß. Endlich frei und unabhängig. Das ist der Traum vieler, die sich ihr Leben in Rente als besonders erstrebenswert vorstellen. Erstmal eine große Reise, um Abstand vom Arbeitsleben zu bekommen, und dann hinein ins Dolce Vita. Warum aber plötzlich die große Angst vor der Zeit nach dem Arbeitsleben?
Arbeit ist Identifikation, Arbeitsleben Sicherheit.
Das Arbeitsleben über vierzig, oder gar noch mehr Jahre, war lang und beschwerlich. Die Babyboomer der fünfziger und sechziger Jahre scheiden nun in Scharen aus dem aktiven Arbeitsleben aus. Nie hat diese Generation eine echte, eine lebensbedrohliche Krise durch kriegerische Auseinandersetzungen erleiden müssen. Alles scheint sicher und wohl geordnet. Der Trott im Alltag ist zwar teils langweilig, teils aufreibend, aber er bedeutet so etwas wie Sicherheit. Mehr noch. Der angestammte Platz im Unternehmen, im Amt, in der Fabrik vermittelt Identifikation.
Über die Jahre wächst das Fachwissen. Routine verleiht dem Arbeitenden Souveränität, Bedeutung seiner selbst als bewährtes Zahnrad im betrieblichen Getriebe. Körper, Geist und Seele werden gleichermaßen gefordert und erfahren dadurch Stärkung, quasi Fitness. Der soziale Kontakt zu Kolleginnen, Kollegen, Vorgesetzten, Kunden etc. ist quasi die Gewürzmischung für das ganze Große. Hieraus schöpft der Mensch seine Bestätigung, „zu was nutze zu sein“. Ein lebenswichtiges Momentum. Und nun: Der Abschiedsempfang, wohlmeinende Worte der Geschäftsleitung, beste Wünsche für ein weiteres gesundes Leben im wohlverdienten Ruhestand. Blumenstrauß. Ende!
Transfer vom Arbeitsleben ins Rentendasein
Beim Verlassen des Büros, des Werkes, der Klinik, des Amtes ist in der Regel ein kaum zu überhörendes erleichterndes Durchschnaufen des frisch gebackenen Rentners wahrzunehmen. Endlich! Endlich frei und unabhängig. Endlich Zeit für den Partner, den Garten, das Hobby, Reisen etc. Längst gehegte Träume und Wünsche stehen jetzt auf der Agenda und wollen realisiert werden. Es klingt zu schön nach Schlaraffenland, als dass da nicht doch ein Haken an der Sache mit dem Rentendasein ist.
Die Leitplanken des Berufslebens sind nun einmal weggefallen. Der Rentner findet sich metaphorisch plötzlich auf einer ungesicherten Schotterpiste wieder. Keine Leitplanken, keine Beschilderung, wohin die Reise gehen könnte. Das schafft enorme Unsicherheit. Unsicherheit auch deshalb, weil wir Menschen im Alter mehr und mehr auf Sicherheit, Planbarkeit, Verlässlichkeit bauen, merken wir doch, dass das Alter seine Spuren hinterlässt und wir automatisch umsichtiger werden. Um im Bild der Schotterpistentour zu bleiben, brauchen wir jetzt neue Erkenntnisse, sichere Pläne, Kenntnisse, um unseren inneren Kompass neu zu justieren. Nach dem Arbeitsleben kommt die Arbeit, das Leben in Rente aktiv zu planen und zu organisieren. Warum?
Analog zum Arbeitsleben: Rentendasein braucht Struktur
So wie ein Baby einen Rhythmus im Tagesablauf braucht, so braucht auch der Rentner ein wiederkehrendes Ritual zur Tagesgestaltung. Bei weitem nicht so minutiös wie zu Berufszeiten, aber dennoch ist ein klarer, Sicherheit gebender Fahrplan ausschlaggebend für ein Gelingen eines fröhlichen Rentnerdaseins. Die Gestaltung dieses Fahrplanes erlaubt eine größtmögliche Freiheit, fordert aber zugleich Konsequenz. Selbst wenn der Wecker nicht wie ehemals pünktlich um sechs Uhr die Nachtruhe beendet oder das Mittagessen um zwölf Uhr auf dem Tisch stehen muss, so ist es doch wichtig für die dritte Lebensphase, bestimmte Leitplanken in das tägliche Leben zu integrieren.
Manche beginnen den Tag mit einem Nordic Walking durch den Park. Andere holen die Enkel von der Schule ab und beaufsichtigen sie bei den Hausaufgaben. Ehrenämter gilt es auszufüllen, je nach Laune. In der Kirche, im Krankenhaus/Altersheim, bei den Aktiv Senioren. In der Jugendarbeit des Posaunenchores warten womöglich interessante Aufgaben, die, wohldosiert, der Rentnerin den neuen Lebensabschnittes attraktiv gestalten. Hierbei geht es keineswegs um Arbeiten bis zur Erschöpfung, sondern eher um die Erbauung. Auch der alternde Mensch möchte gerne Teil des Gesamten sein, wahrgenommen werden als nützlich und hilfreich. Eine ständig größer werdende Zunft an persönlichen Beratern, Coaches, Hilfegruppen zeigt, wie groß der Bedarf ist, die neu gewonnene Freiheit so mit Leben zu füllen, dass keine gähnende Langeweile aufkommt.
Je höher die Verantwortung im Arbeitsleben, desto tiefer das Loch
Statistiken sprechen eine klare Sprache. Insbesondere Führungskräfte und Unternehmerinnen fürchten sich besonders vor dem „tiefen schwarzen Loch“, in das „man“ als Rentner fallen könnte. Das besonders fordernde Arbeitsleben hat kaum Zeit gelassen für Hobbies, für lange Weile (Langeweile). Selbst in den ohnehin knapp bemessenen Urlaubszeiten musste oft noch, wenn auch reduziert, gearbeitet werden. Wochenenden wurden größtenteils zur Regeneration auf dem Golfplatz, beim Wandern oder auf dem Segelboot genutzt. Was also tun, wenn eines Tages aus der Führungskraft, dem Unternehmer ein Rentner geworden ist?
Auch diese Spezies von verantwortungsvollen Gestaltern des Arbeitsleben hatten in ihrer Schaffenszeit klare Leitplanken, binnen derer sie sich orientierten und somit ihre Identifikation fanden. Mit Aufgabe der regulären Berufsausübung geht einher, dass diese Führungskraft, oder auch die Unternehmerin, an stützender, sinnstiftender Macht einbüßt. Mit einem Mal ist „man nichts mehr“. Keine Meetings, keine OPs, keine Geschäftsreisen etc. Der Machtverlust ängstigt die üblicherweise aktive Seniorin bis ins Mark. Umso empfehlenswerter ist es, rechtzeitig eine Neuorientierung einzuleiten. Wie essentiell, wie bedeutend, wie gewinnbringend kann ein solcher Senior sein profundes Wissen, seine Lebenserfahrung der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Locker, entspannt, ohne Druck, sondern wissend, dass das Rentendasein die Erntezeit für alle die Mühen im aktiven Arbeitsleben bedeutet.
Was nehmen wir mit? Struktur auch nach dem Arbeitsleben
Von der Wiege bis zur Bahre brauchen wir Menschen eine verbindliche, Sicherheit gebende Struktur unseres jeweiligen Lebensabschnittes. So wie der Körper durch ein klar umrissenes, konsequent umgesetztes Fitnessprogramm „in shape“ gehalten wird, so brauchen Geist und Seele ebenfalls genügend aktive Unterstützung zum Erhalt der Lebensfreude. Keine Volksweisheit beschreibt das besser als: „Wer rastet der rostet“.
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Über den Autor
Georg-W. Moeller ist Führungskräftecoach und Spezialist für Unternehmernachfolge. Seine Website: gwm coaching plus: Motivationscamp