Ambidextrie: Die Kunst Ambivalenzen zu meistern
Das vorweg: Selten (müsste sehr scharf nachdenken, wann überhaupt) habe ich ein Sachbuch in Händen gehabt, welches dermaßen gekonnt Vergnügliches (resp. gekonntes Storytelling!) mit profundem Wissen verknüpft. Und darüber hinaus mit sehr praxisnahen Tipps für Unternehmen aufwartet, wie das (vermeintlich) schwergängige Thema Ambidextrie Eingang in den Unternehmensalltag finden kann, inklusive Denken und Tun!
Ja, Autor und Autorin, Christoph Frey und Gudrun L. Töpfer, legen bereits mit der Aufbereitung dieses Buches den Beweis vor, dass es geht, dass Ambidextrie (Beidhändigkeit, anders ausgedrückt, vermeintlich unvereinbare Widersprüche zu vereinbaren) machbar ist. Sei es in Gestalt der eben genannten, scheinbaren, Antipoden des süffigen Schreibstils bei hochkomplexer Thematik, als auch der Vereinbarkeit von explizitem Exploit-Modus in Sachen sauberer Buchstruktur und, den Leser verlässlich führender, Gliederung – mit eben höchst explorig-kreativer Ideenfülle, wie das Miteinander von Sicherheit, Ordnung, Kalkulierbarkeit einerseits – sowie Experiment, Ungewissheit, Irrtumstoleranz andererseits im Unternehmen gelingen, mehr noch eine kongeniale Symbiose begründen kann.
Was hat ein Kartoffelsuppenrezept mit Ambidextrie zu tun?
Und damit sind wir bereits bei der, im ersten Moment verblüffenden, Allegorie „Kartoffelsuppenproblem“ in Kap. 1: Ist das, was ich da gerade geschrieben habe, zu den Ingredienzien von Ambidextrie, lediglich eine „ziemlich wachsweiche Definition“, wie es die Autorinnen auf S. 18 solchen Definitionen ankreiden, die Bestandteile aufzählen, indes keine Anleitung geben, wie damit umzugehen sei? Ja, da haben die beiden wohl recht. Denn was soll (wenn es nicht gerade ein begnadeter Koch ist) ein „Heimwerker“ am Herd mit einem Rezept anfangen, das Zutaten nennt, vom Kartoffelschäler über die Nahrungszutaten bis zum Herd, um die Suppe darauf zu kochen – sich jedoch darüber ausschweigt, was wann, in welchen Menge genutzt, in welchen Zeitraum geschehen soll.
Folgen wir also dem Autorenteam auf seiner Reise durch die hochkomplexe Landschaft der Ambidextrie, vor allem aber der Reiseroute, welche die beiden konzipiert haben, um im Unternehmen mit Widersprüchlichkeiten (Ambivalenzen) und Uneindeutigkeiten (Ambiguität) umgehen zu lernen, um sich schlussendlich zum Meister der Beidhändigkeit zu entwickeln.
Exploit und Explore im strukturierten Ambidextrie-Vergleich
Schauen wir ein wenig tiefer ins Buch hinein: Nachdem Frey / Töpfer in Kapitel 1 die Leserin mit Basisdefinitionen für Ambidextrie sowie Exploit vs. Explore theoretisch angewärmt haben, geht es in Kapitel 2 gleich wieder hinein ins pralle Erleben. Mit dem Erzählelement des „Fußballclub (FC) Bewahren“, seinem Trainer Hotte Kotzlowski sowie seinem „Gegenspieler“, dem Frauen-Fußballclub „Vorwärts Erkunden“ (Trainerin Madeleine Noripoor-Binsenwanger – der Einfallsreichtum des Autorenteams ist einfach herzerfrischend), schafft das Autorenteam pralle Sprachbilder bzw. Metaphern, die Exploit und Explore die akademische Schwere nehmen – und sich 1:1 auf Unternehmenswirklichkeit übertragen lassen. Um sodann in den Kapiteln 3 und 4, brillant dem Rhythmus (welcher den Charakter des Buches prägt) aus fabulierender Leichtigkeit und theoriegesättigter „Schwere“ gerecht werdend, in die Feinheiten von Exploit- und Explore-Modus einzutauchen. Hier mit dem Ariadnefaden einer sauberen, Vergleiche ermöglichenden, Struktur; etwa, indem in jedem der beiden Detailkapitel Exploit und Explore anhand der Komponenten „Grundannahmen“, „Organisationsbegriff“, „Entscheiden und Verantworten“, „Wissen und Lernen“, „Umgang mit Fehlern“ dekliniert werden, mündend in das Akronym „WHAT“, ein Ergebnisauswertungsinstrument, welches wiederum in drei Phasen gegliedert ist: Was haben wir aus dem bislang Aufgeführten gelernt/erfahren? Warum ist das wichtig für uns? Was bedeutet das für die Zukunft unseres Unternehmens?
Der Clou: Professionelles Ambidextrie-Management
Ab Kapitel 5 bis zum Kap. 11 führt das Autorenteam den Leser zunehmend intensiver in die Verwirklichung des Konstrukts Ambidextrie im Unternehmen ein. Zunächst: Was so fern, so theorielastig klingt, gehört zum Wesen von Unternehmen – und das seit je her. In jeder Organisation gibt es exploitorientierte Bereiche und Arbeitsweisen, etwa normierte Prozesse in der Produktion. Zugleich aber (über)lebt jedes Unternehmen nur durch Weiterentwicklung, durch Anpassung an sich unaufhörlich verändernde Umfeldbedingungen (die Evolution ist Lehrmeister), in der Bilanz durch exploreorientierte Ideen, durch Brainstormingprozesse. Das kann auch (wenn wir nicht gleich von einem Wandel ganzer Geschäftsmodelle ausgehen) eine Digitalisierung bestimmter Arbeitsabschnitte in sonst festgefügten Produktionsprozessen sein.
Das Ekvilibro-Modell: Gleichgewicht durch Ambidextrie
Was also ist das Besondere, das wirklich Neue dieses Ambidextrie-Leitfadens? Zuerst kritische Frage: Welches Unternehmen verfügt heutzutage bereits über ein strategisch fundiertes Ambidextrie-Management? Eben! Das ist der Clou, der USP, den das Autorenteam Frey / Töpfer mit seinem Leitfaden schafft: In diesem Buch entsteht vor den Augen der Leserin (zauberhaft untermalt durch die filigranen Zeichnungen des Illustrators Daniel Holy) ein organisationaler Maschinenraum, welcher die beiden relevanten Spielarten ambidextrer Organisationsgestaltung und -entwicklung sorgsam durchspielt: die strukturelle (eine Abteilung exploit, die andere explore) und die kontextuelle (je nach Situation) Ambidextrie bilden die Säulen, zwischen denen Ambidextrie-Management kultiviert wird. Im Idealfall mit unternehmensinternen Ambidextrie-Lotsen, die zwischen den Akteuren vermitteln, übersetzen, moderieren – und derart das Gleichgewicht wahren helfen (Im Esperanto bedeutet Ekvilibro: Gleichgewicht, s. Kap. 7) im Spannungsfeld zwischen Bewahren und Erneuern.
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Aus meiner Sicht ein Buch, das gerade in unserer Zeit immer noch exponentiell wachsender Entwicklungsdynamik (seien es nur beispielhaft die Digitalisierung oder globalisiertes Wirtschaften) Unternehmen bzw. den Führungsebenen sehr konkrete, praxisorientierte Ideen an die Hand gibt, wie identitätsstiftende Tradition und zukunftssichernde Innovation Hand-in-Hand gehen können. In einer Zeit, welche Unternehmen eine immens hohe Flexibilität abverlangt, verbinden die Ideen und Modelle dieses Buchs Inspiration mit handfestem Management.
Christoph Frey, Gudrun L. Töpfer: Ambidextrie in Organisationen: Das Praxishandbuch für eine beidhändige Zukunft, Schaeffer Poeschel Verlag Stuttgart, 2021, 1. Auflage. Bezugsquelle
Über die Autorin
Die Autorin ist Inhaberin von „Daniels Kommunikation“ (Sprache macht den Menschen aus) und Mitgründerin der Verbundinitiative „authentisch-anders: Für eine wache Kultur in Unternehmen und Gesellschaft„. Unter dem Leitgedanken der kulturellen Innovation begleiten die authentisch-anders Mentoren, mit jeweils individueller Expertise und Perspektive, Unternehmen als Sparringspartner, Inspirations- und Feedbackgeber. Damit innovationsbereite Unternehmen mit einer zukunftsweisenden Kultur Impulse in die Gesellschaft senden. Mit einer Kultur, die Mitarbeiterautonomie, Selbst-Verantwortung und Sinnhaftigkeit verbindet. In der CSR, New Work und agiles Management mehr als Worthülsen sind. So setzen Sie als Unternehmen Akzente authentisch anders – bei Ihren Stakeholdern und in Ihr gesellschaftliches Umfeld hinein!