Ja, das möchste: eine Villa im Grünen, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße, mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehen“. Mit zärtlich-ironischem Witz adressiert Kurt Tucholsky im „Ideal“ die Sehnsucht, Unvereinbares zu vereinen. Und enthüllt Ambivalenz, zwischen deren Antipoden sich Vielschichtigkeit verbirgt. Ein Phänomen, das uns die aktuelle Pandemie sehr ernsthaft vor Augen führt: Wir wollen Sicherheit für unsere Leben, unsere Gesundheit, zugleich Freiheit für unseren Bewegungsradius, unsere Handlungsoptionen. Wie geht das zusammen?
Im abschließenden Teil 6 dieser Blogreihe beleuchten wir Ambivalenz im gesellschaftlichen, Wirtschafts- und Unternehmenskontext.

 

Ambivalenz-Spirale zwischen Anpassung und Identität

Jede Entwicklung in einem organischen System löst eine Anpassungs- und Veränderungsspirale aus. Wirbel- und Säugetiere, inklusive des Menschen, haben sich über Millionen von Jahren kontinuierlich wechselnden Umwelt- und Umfeldbedingungen angepasst – in Gestalt sozialer Gefüge, körperlicher Veränderungen und geistiger Entwicklungen. Eine unaufhörliche Spirale, die heute geprägt ist durch digitalen Fortschritt sowie globalisierte Politik- und Wirtschaftsbeziehungen. Unternehmen als organische Systeme bzw. Entitäten sehen sich in der Ambivalenz von Anpassung (Innovation, Disruption) und unverwechselbarer Identität (Tradition). Im Innen zudem damit konfrontiert, die Balance zu halten zwischen individuellen Anliegen und kollektivem Übereinkommen. Ein Spannungsfeld, das angesichts der Transformation zu einer Wissensgesellschaft und -wirtschaft eine historisch neue Dimension gewinnt.

Ambivalenz zwischen Eigenständigkeit und Herde

Im gesamtgesellschaftlichen, ja globalen Kontext, zeigt sich als Antwort auf die Verortung, wo stehe ich? – vermehrt ein wieder erstarkender nationalistischer als auch Gesinnungsseparatismus, im Wirtschafts- und Handelskontext in Protektionismus ausartend. Die Flucht in die vermeintlich vertraute, selbstähnliche „Herde“ ist ein Phänomen, das Elias Canetti in „Masse und Macht“ als Ausdruck von Furcht vor dem Unbekannten verstand. Im globalen Gefüge drückt sich das Unbekannte in anderen Kulturen und Handelsbräuchen aus, unmittelbar verkörpert der Andere das jeweilig‘ Fremde, dem mit Vorsicht zu begegnen ist. „Es ist die Masse, in welcher der Mensch von seiner Berührungsangst erlöst werden kann“, pointiert Canetti. Vor wessen Augen entstünde hier nicht das aktuelle Bild sog. „QuerDenker“-Aufmärsche, gepaart mit vereinfachenden Annahmen (der Zwilling des Massephänomens), um sich einen Pfad durch undurchschaubare Komplexität freizuschlagen.

 

Authentisch-anders-Phänomene: eine Bewusstseinsreise

  1. Am Anfang war die Innovation, das Neue in die Welt bringen; Innovation, mehr noch kulturelle Innovation bedarf der Führung.
  2. Welche Führung adäquat ist, wie deutungsfähig Führen generell ist und wie Hierarchien im authentisch anders-Führen konnotiert werden, vertieft die Autorin in Teil 2 der Blogreihe.
  3. Neue Formen des Miteinanders, darunter ein reflektiertes Führungs- und Hierarchieverständnis: es sind alles Lernprozesse – bis hin zur lernenden Organisation, Teil 3.
  4. Lernen ist mehr als rein vernunftgesteuertes Mehren von Wissen, Lernen umfasst auch das Verstehen unserer Empfindungen. Die Klugheit unserer Gefühle betrachtet die Autorin in Teil 4 der Reihe.
  5. Ob Ratio gefragt ist im Veränderungsgeschehen oder eher das Gefühl: Entscheidend ist immer der Austausch, die Kommunikation; Menschen begegnen sich wahrhaftig im Dialog, Teil 5.
  6. An jedem Punkt der Bewusstseinsreise zeigen sie sich: die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die Merkmal unserer Existenz sind; der Dialektik unseres Seins. So kann Lernen Lust als auch Leid bedeuten; Führen stellt sich als eine komplexe Gemengelage von Anforderungen dar, die in sich widersprüchlich sein können und die Innovation ist immer gekoppelt an die Frage nach Erhaltenswertem: Teil 6 und zugleich Abschluss dieser Blogreihe.  

 

 

Übereinkommen als Ausweis kluger Ambivalenz-Toleranz

In der sozialen Entität Unternehmen zeigt sich das Austarieren persönlichen Ausdrucks und Wir-Empfindens in besonderer Eindringlichkeit – vom Mittelstandsunternehmen bis zum Konzern, bei letzterem oft sogar in besonderer Eindringlichkeit durch fast genormte Rollen und Funktionen. Das Unternehmens-Wir kann Geborgenheit vermitteln, Zugehörigkeit und Stolz. Die Zerreißprobe steht an im Abgleich mit den Ansprüchen, Ideen ggf. auch der Widerspenstigkeit individueller Mitarbeiter. Hier zeigt sich, ob das „Wir“ ein generisches ist oder ein rein unternehmensseitig behauptetes.
Die Chance der Balance liegt in einem vermeintlichen Paradoxon: Der Kultivierung kollektiver Intelligenz durch Würdigung und Inklusion solitärer Entwürfe. Dahinter steht der Gedanke, dass jede Gemeinschaft nur so stark sein kann wie ihre Individuen. Eine Ansammlung von „Nullen“ ergibt ein Nullsummenspiel – es bewegt sich nichts. Ein Übereinkommen zwischen starken Charakteren lebt vom unaufhörlichen Überprüfen des Gemeinsamen, seiner Belastbarkeit. Ambivalenz-Toleranz, und damit die Anerkennung von Vielschichtigkeit zwischen den Polen, ist anstrengend, zugleich aber in tiefem Sinne lebendig.

Zulassen von Ambivalenz als Nachweis von Authentizität

Diese, sich vom Phänomen der inneren Widersprüchlichkeit, vom Spannungsfeld nährende, Konnotation von Lebendigkeit bedeutet für uns, unser Kernteam bei authentisch-anders und die uns verbundenen Mitstreiter und Kooperationspartner, das Synonym von Authentizität. Allzu oft wird Authentizität als etwas Feststehendes behauptet: „So bin ich, so sind wir eben“ – als Individuum, als Organisation. Womit eine Unveränderlichkeit einhergeht, die evolutionär nicht überlebensfähig ist. Im organisationalen Kontext provoziert das Diktum unaufhörlicher Veränderung eine unaufhörliche Abwägung von Prämissen und Empfindungen.

 

Ambivalenz-Toleranz? Signalgeber für waches Wahrnehmen

Digitaler Wandel, globale Wirtschaftsbeziehungen, Migration: das sind markante makroökonomische Auslöser für einen Transformationsprozess. Unternehmensindividuelle Auslöser spielen mindestens eine genauso gewichtige Rolle für die Veränderung eines Unternehmens

  • Unternehmensübergabe – Verkauf / Nachfolge und Erwerb: Sie überlegen, Ihr Unternehmen an einen Nachfolger zu übergeben? Über die hard facts hinaus schauen Interessenten zunehmend auch auf die Kultur des Übernahmeobjekts. Die Fähigkeit mit Widersprüchlichkeit umgehen zu können ist ein Ausweis von Bewusstseinsreife.
    Oder planen Sie die Übernahme eines etablierten Unternehmens? Dann möchten Sie gewiss Ihre eigenen Spuren setzen. Ein neues Geschäftsmodell könnte angesichts dynamischer Entwicklungen naheliegend sein. Das bedeutet zugleich eine grundlegende Veränderung der Unternehmenskultur. Hier ist Ihre Chance. Schaffen Sie (Lern-)Räume für ein Klima von Widerspruchs- und Vielschichtigkeitstoleranz!
  • Sanierung, Restrukturierung: Ob ein Abstoßen von Firmensegmenten auf der Agenda steht, ein Zukauf oder eine Fusion – immer geht es um einschneidende Veränderungen für das Unternehmen und im Unternehmen selbst. Die Kultur des miteinander Arbeitens ist tangiert. Und damit Ihre Überlegung, welchen Charakter Ihr Unternehmen künftig haben soll!
  • Unternehmensgründung: Startups zeichnet in der Regel ihre Begeisterung für eine zündende und damit das Team verbindende Idee aus. Was aber, wenn das Startup langsam ein etabliertes Unternehmen wird? Wie arbeiten die Menschen dann zusammen? Welche Werte, welchen Sinn messen sie ihrer Arbeit zu – über die Produktidee hinaus? Hier beginnt das Nachdenken über tiefergehende Zusammenhänge, hier begleiten wir Ihr Unternehmen hin zu einer wachen, bewussten Kultur

 

 

Engen Grenzen ein? Ambivalenz im Freiheitsverständnis selbst

Betrachten wir sachgebundene Prämissen zu Strukturen und Prozessen: Passen diese zu den Herausforderungen, mit denen sich das Unternehmen konfrontiert sieht? Bedeutet bspw. höhere Flexibilität und damit Autonomie von Mitarbeitern sogleich das Abschaffen sämtlicher Parameter und Regeln? „Ein gängiges Missverständnis“ sagt Frederic Laloux im Interview. Strukturen und Systeme geben Halt, zeigen Gestaltungsoptionen innerhalb ihrer Begrenzung auf, mehr noch, ihre Existenz als solche gewährt die Chance, sie zu überwinden – und derart ein Verständnis von Freiheit von etwas zu entwickeln. Um neue, der jeweiligen Situation besser angemessene Strukturen und Abläufe zu konzipieren – die Freiheit für etwas. Die Philosophin Hannah Arendt betitelte ihr historisch-politisches Essay in zwingender Konsequenz als: „Die Freiheit, frei zu sein“.

Im Widerstreit der Gefühle: Ambivalenz von Zweifel und Zuversicht

Authentizität ist ein Chamäleon, ein Wanderer zwischen den Antipoden ambivalenter Phänomene. „Nur wer sich verändert, bleibt sich treu“ pointierte Wolf Biermann in seinem charakteristischen Sprechgesang. Es bedeutet das anders sein von einer Sekunde zur nächsten, bei verschiedenen Begegnungen, in unterschiedlichen Situationen. Jede Sicht, jedes Sein haben ihre Wahrheit, ihren Wert. Auch widersprüchliche Empfindungen, Meinungen, Gegebenheiten. Würden wir den Aufbruch wagen, gäbe es da nicht die Angst, etwas zu verpassen?


Betrachten wir die Balance zwischen Zweifel und Zuversicht: Rasch oktroyieren wir dem Zweifel die Rolle des Blockierers, gar des Ängstlichen. Aber: wer nicht zweifelt, läuft Gefahr, leichtgläubig Strömungen, Behauptungen hinterherzulaufen. Der Mathematiker und Philosoph René Descartes bezeichnete den Zweifel als den Weg zur Weisheit. Wissenschaft zeichnet sich durch den Zweifel an bislang Entdeckten und die Bereitschaft für neuerliche Widerlegbarkeit aus – sonst ist es Glaube. Der Zweifel ist es, der uns immer wieder bislang unentdeckte Facetten eines Gesamtgeschehens aufdecken lässt, gepaart mit der Zuversicht auf ungeahnte Erkenntnisse und Entwicklungen.

Existentielle Ambivalenz: Wissen um Vergangenheit leitet Zukunft ein

Unser gesamtes Sein – vom Individuellen über soziale Entitäten bis zum globalen Miteinander – ist eingewoben in ambivalente Empfindungen, in das Erleben von Widersprüchlichkeit. Wie sehr beherrscht uns die Sehnsucht, das Alte, vermeintlich Überkommene, zu überwinden, um das verheißungsvolle Morgen zu erleben – wie es oft hektische Bemühungen unternehmensseitig um innovativen Anstrich, um Mobilität und Agilität verdeutlichen. Und wie oft übersehen wir dabei die Untrennbarkeit von Perspektive und Retrospektive, dass unser Vermögen Zukunft einzuleiten in unserem Wissen über Geschehenes wurzelt. Mehr noch in dessen Akzeptanz, ohne indes in ritualisierende Beschwörung einer vermeintlich besseren Vergangenheit zu verfallen.
Die kritische, die bewusste, die wache Auseinandersetzung mit dem „es war, es ist, so kann es sein“ ist synonym mit Verantwortung für das eigene Denken und Handeln als auch für das Umfeld – das unmittelbare im Kollegen- und Verantwortungsbereich, das weitergehende im Mikrokosmos des jeweiligen Unternehmensumfeldes sowie im Makrokosmos Gesellschaft.

 

Und noch ein Buchtipp: Vieldeutigkeit historisch-kulturell-politischer Natur

 

Beitragsbild: Copyright genehmigt by Pixabay; Überarbeitung: authentisch-anders-Mitgründer Michael Wolf; Bildgraphik im Text ebenfalls Michael Wolf

 

Teil 1 der Reihe: Innovation

Teil 2 der Reihe: Führung

Teil 3 der Reihe: Lernen

Teil 4 der Reihe: Emotionen

Teil 5 der Reihe: Dialog

 

 

Katharina Daniels: Kommunikationsberaterin und Publizistin

Über die Autorin
Die Autorin ist Inhaberin von „Daniels Kommunikation“ (Sprache macht den Menschen aus) und Mitgründerin der Verbundinitiative „authentisch-anders: Für eine wache Kultur in Unternehmen und Gesellschaft„. Unter dem Leitgedanken der kulturellen Innovation begleiten die authentisch-anders Mentoren, mit jeweils individueller Expertise und Perspektive, Unternehmen als Sparringspartner, Inspirations- und Feedbackgeber. Damit innovationsbereite Unternehmen mit einer zukunftsweisenden Kultur Impulse in die Gesellschaft senden. Mit einer Kultur, die Mitarbeiterautonomie, Selbst-Verantwortung und Sinnhaftigkeit verbindet. In der CSR, New Work und agiles Management mehr als Worthülsen sind. So setzen Sie als Unternehmen Akzente authentisch anders – bei Ihren Stakeholdern und in Ihr gesellschaftliches Umfeld hinein!