„Man kann sich ein gespanntes Tuch vorstellen, auf dem sich 20 Tischtennisbälle bewegen. Dann wirft man eine Bleikugel in die Mitte. Die Bleikugel ist schwerer und bildet einen Trichter. Dieser Trichter ist eine Art Attraktor, der die anderen Tischtennisbälle von ihrem Kurs abbringt. Auf ähnliche Weise kann man sich die Matrix zwischenmenschlicher Aktionen vorstellen, wenn die Gründer und Eigentümer der Organisation den Raum betreten. Ob gewollt oder nicht, sie werden die Dynamik der Kommunikation beeinflussen“.

Der Kritik sachlich-selbstkritisch-konstruktiv begegnen

Insbesondere diese, auf diesen speziellen Sachverhalt bezogene, bildhaft-analytische Auseinandersetzung Wittrocks in seinem Buch „Holacracy verstehen“, (s. u. Links zum Buch) mit den Einwänden Kühls, zeigt eines deutlich: Wittrock bleibt in seiner gesamten Argumentation, quer durch den knapp 200 Seiten umfassenden Fließtext, in der Debatte sachlich – und konstruktiv-selbstkritisch!

Kühl hatte argumentiert: „Wenn die Gründer die Mehrheit des Kapitals an der Firma halten, wissen alle Mitarbeiter, dass diese mit einem Federstrich die holakratischen Prinzipien wieder zurücknehmen können und antizipieren das in ihren Entscheidungen“.

Es ist sicher nicht übertrieben, diesen Einwand Kühls, mit dem Zweifel an der Kompatibilität vom revolutionären Managementmodell Holacracy mit klassischen Eigentümerverhältnissen, als den grundlegenden Einwand zu klassifizieren. In seiner Replik gesteht der studierte Philosoph Wittrock ganz offen diesen Widerspruch ein und setzt sich mit Besonnenheit damit auseinander, um Lösungsoptionen zu entwickeln. Ein Debattenkontrahent, wie er in so manch‘ aufgeregt erregtem gesellschaftspolitischen Aufeinanderprallen wünschenswert wäre.

Die inversive Befugnisstruktur: Revolution Holacracy

Zum Revolutionären des „neuen Betriebssystems für Organisationen“: Als schnelle, radikale Veränderung gegebener Bedingungen, gesellschaftlich, politisch, ökonomischer Natur wird Revolution gelesen. In puncto Radikalität kann dies ohne Abstriche für das, vom US-Amerikaner Brian Robertson entwickelte, Managementmodell zugestanden werden.

Herausragendes Beispiel der radikalen Umwälzung: Die inversive Befugnisstruktur. Kurz und knapp bedeutet diese die genaue Umkehrung von Verbot und Erlaubnis. Ist in einer klassisch vertikalen Hierarchie alles an Eigenmächtigkeit verboten, was nicht explizit erlaubt ist, so ist bei Holacracy alles erlaubt, solange es in der jeweiligen Holacracy Verfassung eines Unternehmens nicht ausdrücklich untersagt ist.

Furcht und Vorsicht vs. Gestaltungskraft und Selbstbestimmung

In einer klassisch vertikalen Organisationshierarchie übernimmt, vielleicht etwas überspitzt formuliert, die Angst das Regime. Die latente Angst der Beschäftigten, etwas falsch zu machen, vielleicht abgemahnt, sogar entlassen zu werden, wenn ihr Handeln, ob nun real oder vom Beschäftigten lediglich so gedeutet, sich über das Verbotene hinwegsetzt.  Erneut etwas drastisch formuliert: So gedeiht kaum Selbstbestimmtheit, gar Autonomie im beruflichen Profil.

Holacracy hingegen setzt auf das genaue Gegenteil: Auf die Gestaltung des eigenen Aufgaben- bzw. Rollenprofils durch den Inhaber, die Inhaberin dieser Rolle. Hier ist Eigenmächtigkeit nicht nur erlaubt, hier wird sie gefordert. Eigenmächtigkeit in dem Sinne, dass die Rolle, die jemand für sich gestaltet, mit einer hohen Verantwortung einhergeht für die Erfüllung der selbstgesetzten Aufgaben. Mehr noch mit einem Verständnis für andere Rollen, also dem genauen Gegenteil des Silo-Denkens.

Systemische Wechselwirkungen: Der Blick über das Silo hinaus

Holacracy ist ein fein austariertes System systemischer Wechselwirkungen. Es gilt, den Fokus auf das eigene Aufgabenprofil zu weiten, ein Meta-Verstehen auch für die unternehmensinternen Wechselwirkungen zu entwickeln. Dieses Erfordernis an jeden Rolleninhaber bzw. jede Rolleninhaberin zeigt sich eindrücklich am Entscheidungsprozess für mögliche Neuerungen in der Organisation. Sieht jemand in seinem / ihrem Befugnisbereich die Notwendigkeit einer Neuerung, so besteht der erste Schritt in der Überlegung, welche anderen Aufgabenbereiche betroffen sein könnten. Hierfür wird in einem speziellen Meetingformat die gewünschte Neuerung vorgestellt. Möglicherweise betroffene andere Aufgabenbereiche bzw. Rolleninhaber haben dann die Gelegenheit, ihren Einwand vorzutragen, der auf einen konkret sich abzeichnenden Schaden durch die mögliche Neuerung gerichtet ist. Lässt sich dieser Schaden nicht hieb- und stichfest begründen, wird die Neuerung angeschoben. Gefühle wie „das gefällt mir nicht“ gelten nicht als Einwand. Mit dem Einwandsprinzip (Konsent-Prinzip)sind auch oft ewige Diskussionen darüber, ob etwas Neues sich in die oder die Richtung entwickeln könnte, vom Tisch.

Leserführung durch eine folgerichtig aufeinander aufbauende Gliederung

Dennis Wittrock hat seine Replik auf die kritische Würdigung Stefan Kühls klar strukturiert. Für Leser, die sich mit Holacracy erstmals auseinandersetzen, skizziert der Master Coach im Kapitel 1 die elementaren Charakteristika des Managementmodells. Von der Verfassung, die sich die praktizierende Organisation selbst gibt, über das Führungsverständnis und Meetingformate bis zur sauberen Abgrenzung zur verwandten Soziokratie.

In Kapitel 2 begibt sich Wittrock in die detaillierte Auseinandersetzung mit Kühls Holacracy-Kritik. Ein wichtiger Punkt hier: Kühls Einlassung, in der Holacracy Organisation sei die Rolle wichtiger als der Mensch, widerlegt Autor Wittrock mit präzisem Quellennachweis und praktischem Erfahrungswissen.

Kapitel 3 erläutert die Antwort der Holacracy-Codizés auf Spannungsfelder zwischen gegensätzlichen Annahmen und Verhaltensweisen, die jeder Organisation inhärent sind – wie etwa Formalität vs. Informalität und Disziplin vs. Freiheit. Auch diese Polaritäten werden im Diskurs mit Stefan Kühls Analysen durchleuchtet.

Kapitel 4 zieht dann den Erzählbogen in eine grundlegende Analyse des Diskurses zwischen Wissenschaft, hier abgebildet in der Kritik Stefan Kühls und Praxis von Holacracy.

Unaufhörliches Entwicklungspotenzial und intellektuelle Durchdringung

In allen Kapiteln zeigt sich Wittrocks Bereitschaft zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem von ihm praktizierten und mit großem Engagement verfochtenen Managementmodell Holacracy. Immer wieder verweist er auf das unaufhörliche Entwicklungspotenzial in diesem anspruchsvollen Modell, das umgekehrt auch großes Engagement und intellektuelles Durchdringungsvermögen aller beteiligten Akteure erfordert.

Sei es die Herausforderung, Führung anders zu deuten und zu praktizieren als in klassisch vertikalen Organisationen, nämlich als Leitung des eigenen Sachgebietes, der eigenen Kompetenzen und Entscheidungsfähigkeit. Sei es das Bestreben, „Macht“ zwar als Beherrschung eines Aufgaben- und Fachgebietes zu leben, zunehmend aber die Macht von Menschen über Menschen, die in Willkür gleiten kann, aus einer Holacracy Organisation zu verbannen.

Alle diese Prozesse bedürfen der unaufhörlich kritischen Reflexion, sodass eine Holacracy Organisation heute anders aussehen kann, anders aussieht als vor wenigen Jahren. Diese unaufhörliche Reflexion bedarf im Arbeitsalltag erfahrener Mentoren und Coaches aus dem Holacracy Kosmos, die den Menschen, die im Unternehmen mit Holacracy arbeiten, die Arbeit am Modell Holacracy zwar nicht abnehmen können, aber doch immer wieder Sichtweisen öffnen, die im Arbeitsalltag bisweilen verlorengehen.

Summa summarum ist Holacracy ein interessantes, ja revolutionäres Modell für ein selbstbestimmtes und transparentes Miteinander am Arbeitsplatz. Zugleich fordert es über die Verantwortung, die mit diesem Miteinander einhergeht, eine hohe intrinsische Motivation und intellektuelle Durchdringungskraft. Holacracy gibt den Akteuren viel, es fordert aber umgekehrt den Praktizierenden viel ab. Und es bedarf, zumindest über einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum hinweg, der Begleitung erfahrener Coaches und Moderatoren.

Links zum Buch:

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Die Autorin dieser Betrachtung des Buches „Holacracy verstehen“ hat mit dem System Holacracy bereits seit der Erstauflage des Buches „Anders wirtschaften: Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie“ 2012 (Zweitauflage 2016, neu konzipiert und erweitert) Berührung gehabt. In diesem Buch ist Katharina Daniels gemeinsam mit Jens Hollmann Herausgeberin. Dennis Wittrock hat hier als Co-Autor zum Modell Holacracy publiziert. Vertiefend hat die Autorin dieser Rezension 2016 an einem zweitägigen Holacracy Einführungskurs teilgenommen, und hat von 2016 bis 2018 als Kommunikationsmentorin mit einem süddeutschen Industrieunternehmen gearbeitet, das Teile der Holacracy-Philosophie in seiner transformierten Unternehmensführung und -kultur integriert hatte.